Mit unseren Augen am Habitatbaum - Ich allein für viele von euch
Mein Name ist Baum. Habitat-Baum. Ich bin ein richtig alter Haudegen, und ich habe im Laufe meines Lebens die Lizenz zur Beherbergung zahlloser Tiere, Pflanzen und dazwischen befindlicher Organismen erworben. Ich bin Kinderstube, Schlafquartier, Nahrungsquelle und Schlachtfeld zugleich. Auf mir, unter mir und in mir kommt Leben zur Welt und geht Leben zu Ende, in vielen Fällen sogar ohne mich jemals verlassen zu haben.
Den ehrenvollen Titel "Habitatbaum" musste ich mir über Jahrzehnte und länger hinweg erst verdienen, denn dafür braucht es ganz bestimmte Eigenschaften. Zuvorderst sind also Geduld und Stehvermögen auf meiner Seite seit jeher ebenso wichtig gewesen wie die Menschen, auf deren Grund und Boden ich stehe, weil wenn die über Generationen hinweg nicht erkannt hätten, wie wertvoll ich bin, hätten sie mich rucki-zucki umgeschnitten und damit abertausenden von anderen Organismen auch gleich den Hahn zugedreht. Ein Dank also an dieser Stelle zuerst an euch, Menschen, dass ich mit allen meinen großen, kleinen und winzigen WG-Kollegen hier sein darf.
Mein Daseins- und Wirkprinzip gilt für Laub- und Nadelbäume in gleicher Weise und deshalb erzähle ich für beide, obwohl der Um- und Abbau von harzigem Nadelholz etwas anders verläuft als bei Laubholz.
Ich bin in Teilen noch am Leben, aber selbst wenn ich dereinst mein Leben beende, bleibe ich als stehendes Totholz das Zuhause für Organismen, die so spezielle Lebensraumanforderungen stellen, dass sie nur in Verbindung mit mir und dem, was ich biete, existieren können. Die Errichtung und die Nutzung meiner Quartiere können sehr rasch oder sehr langsam erfolgen oder sogar ein Leben lang dauern. Durch die Nutzung von z.B. Baumhöhlen wird die Nachnutzung durch komplett andere Quartiernehmer vorbereitet und so herrscht auf, in und unter mir ein reges Kommen und Gehen.
Wie jeder Baum habe ich einen Körper, der sich in einen Wurzel-, einen Stamm- und einen Kronen- (Laubbaum) bzw. Wipfelbereich (Nadelbaum) gliedert.
Wind und Wetter sowie Begegnungen mit Menschen und Tieren haben Spuren an mir hinterlassen. Ich wurde verletzt und verformt und auf meine hartnäckige Art habe ich mich gegen Stürme, Steinschlag und Schneedruck, gegen allzu hungrige Knabberer und rücksichtslose Ästeabreißer gestemmt, habe mich hinterher wieder halbwegs geradegerichtet, habe Wunden mit Ersatzgewebe so gut es ging verschlossen oder teilweise ausgekleidet, habe mich von manchem Ast verabschiedet oder Ersatztriebe gebildet. Abgestorbene Äste, die nicht durch äußere Einflüsse abgebrochen wurden, durften gerne weiterhin Teil meiner imposanten Erscheinung bleiben. Die Risse in meiner Haut, die Narben, Kanten und Totholzspitzen machen mich zum Unikat und geben mir ein Profil, auf das ich stolz bin.
Ich bin vom Scheitel bis zur Sohle (und auch noch darunter) eine Ansammlung unterschiedlichster Klimabedingungen und ich kann klimatische Spitzenerscheinungen ausgleichen. An mir gibt es windige und windstille, sonnige, halbschattige und schattige, feuchte und trockene Zonen und in jeder Zone mieten sich die passenden Mitbewohner ein. Die Aufenthaltsräume meiner Mieter werden in der Fachsprache „Habitate“ genannt und sie entsprechen in etwa euren Wohnadressen. Wo eure Behausungen recht groß und mitunter gleichförmig sind, zeichnen sich die Quartiere an, in und unter mir durch Kleinflächigkeit und Vielfalt aus. Diese Mikrohabitate sind, wie schon weiter oben erwähnt, nicht für die Ewigkeit, sondern sie verändern sich durch die Lebensweise ihrer Bewohner. Die Umwandlung der Strukturen mündet letztendlich im vollständigen Abbau. Bevor es jedoch soweit ist, bin ich abermilliardenfach in Teilen weitergegeben und in den Kreislauf der Natur rückgeführt worden.
Den Text könnt ihr hier downloaden.